In Gelsenkirchen-Ückendorf gründeten einst US-Soldaten eine Szene aus Hippies, Rockern und Aussteigern. Dann entwickelte sich der Stadtteil zum Brennpunkt. Nun erwacht dort ein Künstlerviertel.

Mit ein bisschen Fantasie erinnert die Bochumer Straße in Ückendorf an eine verlassene Wildweststadt. Die Straße ist menschenleer, Holzfensterläden hängen schief in den Angeln, hinter den undekorierten Schaufenstern sammelt sich der Staub. Ückendorf gilt, vor allem rund um die Bochumer Straße, als sozialer Brennpunkt. Der Strukturwandel hat von der einstigen Prachtstraße nicht viel übrig gelassen. Die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Ladenlokale stehen leer, die Gründerzeithäuser verfallen. „Das sind Entwicklungsräume, von denen manche Großstadt nur träumen kann“, sagt Siegbert Panteleit dazu. Der selbstständige Standortentwickler hat eine Vision – von einem lebendigen Stadtteil, in dem kreative Köpfe die Hinterhöfe, Schuppen und Gärten für Ausstellungen und Modenschauen nutzen, Investoren den Nachwuchs fördern und sich die 16 vertretenen Kulturen in den Ladenlokalen zu bunten Veranstaltungen aller Art treffen.

Das Quartier mit Underground-Kunst entwickeln

Was in Berlin-Kreuzberg, im Hamburger Schanzenviertel und in anderen deutschen Großstädten funktioniert, das geht auch hier, davon ist Panteleit überzeugt und fragt: „Warum sollte Gelsenkirchen nicht in einen internationalen Wettbewerb eintreten?“ Tatsächlich ist Ückendorf ein wenig bunter geworden, seit neue Cowboys in der Stadt sind, die Insane Urban Cowboys. Dieses Künstlernetzwerk will dem Viertel im Gelsenkirchener Süden neues Leben einhauchen: ein bisschen Streetart hier, ein „Museum der geborgten Dinge“ da, ein Kunstcafé um die Ecke. Zum Kreativ-Netzwerk gehören inzwischen rund 60 Fotografen, Designer, Theaterleute, Tänzer, Musiker und Maler, die sich der Region verbunden fühlen und mit ihrer Underground-Kunst die Entwicklung des Quartiers aktiv mitgestalten wollen.

„Es ist ein Geben und Nehmen“, sagt Koordinator und Maler Roman Pilgrim zum Konzept. „Wir helfen den Leuten, sich untereinander zu helfen.“ So lassen sich die Cowboys nicht nur im Viertel nieder, sondern beteiligen sich dort auch an den mehrtägigen Kunstfestivals „Licht an“ und „Tür auf“, unterstützen Projekte von Kunststudenten der Amsterdamer Riedveld Akademie und organisieren Fashionshows gemeinsam mit lokalen und überregionalen Designern.

Der Style schafft es international

Wichtiges Mitglied der kleinen Modeszene und Aushängeschild der Insane Urban Cowboys sind die Schwestern Sara und Joe Urbais, die mit Anfang 20 an der Bochumer Straße den Showroom für ihr junges Modelabel URB Clothing eingerichtet haben. Hinter den Schaufenstern der alten Apotheke hängen ausgefallene Latex-Fummel, die weltweit für Aufsehen in der Modeszene sorgen. So schaffte es der Style aus Gelsenkirchen nicht nur in die Einkaufsmeilen von Tokio und Seoul, sondern auch in die Modemagazine, so in die brasilianische „Glamour“ und die britische „Vogue“. Der Verkaufsschlager sind die „Melting Tights“, die Sängerin Haley Williams in einem Musikvideo der US-Band Paramore trug.

„In Berlin wären wir nur eine Nummer in einem vorgefertigten Ästhetik-Empfinden“, erklärt Designerin Sara Urbais die Standortentscheidung für das Ruhrgebiet. „Wir sehen Gelsenkirchen dabei als Stadtteil von Nordrhein-Westfalen. Wir sind hier sehr mobil.“ Blogger und Branchenkenner aus aller Welt würden erst einmal fragen, ob Gelsenkirchen in der Nähe von Frankfurt oder Berlin liege. Doch die Infrastruktur, mit Bahn- und S-Bahn-Verbindungen komme man durchs ganze Ruhrgebiet und bis zum Düsseldorfer Flughafen, sei tatsächlich einer der vielen Vorteile in Ückendorf. Daneben sind Freiräume vorhanden, die Mieten niedrig, die Bürger willig. Auch die Stadt greift dem Ortsteil, der seit Herbst 2013 offiziell Kreativquartier ist, tatkräftig unter die Arme.

Der Mieter der alten Kutschenwerkstatt an der Bochumer Straße zum Beispiel stellt seine Hinterhof-Räumlichkeiten im Industrie-Schick für Vernissagen, Fashionshows und Kunstprojekte zur Verfügung. „Die Anwohner fühlen sich animiert, sich zu beteiligen. Die Leute streichen ihre Häuser und machen die Gärten fertig“, freut sich Panteleit über die Aufbruchsstimmung.

Es kommt Bewegung in den Stadtteil

Jeder im Viertel grüßt den Stadtplaner, für viele der leer stehenden Gebäude hat er die Schlüssel, zu fast allen kann er Anekdoten aus längst vergangenen Zeiten erzählen. Der gebürtige Gelsenkirchener setzt auf gewachsene soziale Strukturen – und auf den Punk. „Das ist ein abgefahrenes Viertel und für Menschen von den Rändern der Gesellschaft ein schönes Umfeld, um akzeptiert zu werden.“

Gleichzeitig arbeitet die Stadtplanung mit dem Auslaufen des Stadtteilprogramms Süd-Ost zum Ende des Jahres an einem Nachfolgeprogramm für die Revitalisierung der Bochumer Straße. Bis zum Jahr 2023 soll unter anderem die denkmalgeschützte Backsteinkirche Heilig-Kreuz in ein Veranstaltungszentrum für Kulturereignisse umfunktioniert werden, neue Grünflächen sollen das Quartier freundlicher machen und die Gründerzeithäuser saniert werden.

Bis es einmal so weit ist, vermittelt die Wirtschaftsförderung den jungen Kreativen im Viertel bereits Ladenlokale, hilft bei Formalitäten und vergibt sogar spezielle Mikrokredite für die Umsetzung innovativer Ideen. „Außerdem kommt neben dem Wissenschaftspark noch ein großes Justizzentrum nach Ückendorf. Es kommt also Bewegung in den Stadtteil“, versichert Susanne Becker von der Stadt Gelsenkirchen.

Die Idee der deutschen Fußgängerzone ist out

Trotzdem braucht Ückendorf noch Investoren, um eine echte Wirtschaftszone für Kreativunternehmen zu realisieren. Siegbert Panteleit macht eine ausladende Handbewegung. Er deutet auf den öffentlichen Wohnungsbau aus den 70er- Jahren, auf die alten Gründerzeithäuser mit den Gaslaternen und auf einige Kunstgalerien schräg gegenüber einer etwas heruntergekommenen Bushaltestelle. Auf den Klingelschildern stehen deutsche Namen neben türkischen, polnischen und chinesischen. Das Café Luigi liegt gleich neben der Istanbul Bäckerei und dem China-Imbiss Hong Kong.

Einige Häuser weiter vermietet der griechische Betreiber eines Catering-Unternehmens das in dunklem Rot gehaltene alte Stadttheater für Konzerte, Partys und Schauspielabende. Das „Zwischengrau der Vorstädte“ nennt Panteleit diese Ruhrgebietsmischung. „Die Menschen, die hier investieren, müssen die Idee verstehen, nicht nur die Zahlen“, sagt er. „Die Idee der deutschen Fußgängerzone ist out, die Menschen wollen etwas sehen, etwas erleben.“ Dass sie das in Ückendorf können, ist sozusagen historisch verbrieft.

Schon in den 60er-Jahren begründeten amerikanische Soldaten hier eine alternative Szene aus Hippies, Rockern und Aussteigern. Heute gibt es noch die Künstlersiedlung Halfmannshof und die Ückendorfer Galeriemeile mit der höchsten Galeriedichte im Ruhrgebiet. „Das Potenzial ist da, man muss es nur in die moderne Zeit retten“, meint Panteleit und träumt von einem Gesundheitszentrum mit einem türkischen Bad und einem Feierabendmarkt, auf dem Heilkräuter aus den lokalen Gärten verkauft werden.

Die neuen Entwicklungen in Ückendorf können am 13. September im Rahmen des Modeformats „.gif“, veranstaltet von URB Clothing und dem Büro für lokale Wirtschaftsentwicklung Gelsenkirchen-Südost, erkundet werden. Dann präsentieren sieben junge Modemacher aus Gelsenkirchen und anderen deutschen Städten von 17 bis 21 Uhr ihre Kreationen in Form einer Kunstausstellung an drei ungewöhnlichen Orten im Kreativquartier: In verborgenen Wohnungen (Bochumer Str. 94), verlassenen Geschäftsräumen (Bochumer Str. 109) und einem ehemaligen Wellnesscenter (Bergmann Str. 11a) werden Installationen, Performances, Entwürfe, Fotografien, und aktuelle Modekollektionen ausgestellt.

Ein Artikel von Mona Contzen, erschienen in „Welt am Sonntag“ am 07.08.2014